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Sonntag, 11. September 2011

Schreibübungen


Blind auf dem Rummelplatz

Für den Ausflug auf das Frühjahrsfest habe ich mir einen Begleiter organisiert, denn Bilbao, mein treuer Führhund kann solche Veranstaltungen nur schwer ertragen und ich habe Verständnis dafür.
Als wir aus dem Wagen steigen schlägt mir der Lärm wie die bedrohliche Welle einer Sturmflut entgegen. Hätte ich ähnliches nicht schon erlebt, ich würde zittern wie Espenlaub.
Es dauert einen fast zeitlos anmutenden Moment bis ich mich darauf eingestellt habe.
Nur mit Mühe unterscheide ich nach und nach die einzelnen Geräusche und erkenne hier und dort ihren jeweiligen Ursprung.
Mächtig und furchteinflößend, das Rumpeln von Rädern, das Kreischen von geschundenem Metall, dort wo es aufeinandertrifft. Das sind die Kufen der Achterbahn, unverkennbar übertönt es alle anderen Geräusche. Daneben die im selben Zeitenrhythmus an und abschwellenden, durch Angst und Lust geprägten Schreie der Fahrgäste.
Die grobe Melodie einer Drehorgel tönt im Hintergrund und weißt auf andere Fahrgeschäfte hin. Bedächtig lenken wir unsere Schritte in die Richtung des Lärmzentrums. Die Stimme meines Begleiters, kaum hörbar im Lärm, fragt mich nach den anzusteuernden Zielen. „Gibt es hier eine Schiffschaukel?“ frage ich ihn, doch er verneint. „Dann zuerst mal auf das aus der Ferne wahrnehmbare Riesenrad.“
Wahrscheinlich wundert er sich über diese Wahl, beruht doch der Reiz dieses Ungetüms zum größten Teil auf optischen Phänomenen, die mir verwehrt bleiben. Doch auch der Blinde sieht. 
Mein gesamtes Wesen wird zu einem Sinnesorgan, wenn ich in der Gondel sitze. Deshalb bestehe ich auch darauf diese mit niemandem zu teilen. Das Rad setzt sich in Bewegung, langsam und schwerfällig zuerst, dann schneller werdend. In einer perfekten Kreisbewegung steigt meine Gondel langsam nach oben. Ich spüre wie sie einen Höhepunkt erreicht und kurz zu zögern scheint, bevor sie unaufhaltsam ihren Umlauf mit einer sinkenden Bewegung abschließt. Benötigt man Augen um dies zu sehen?
Ich werde selbst zu einem lebenden, selbstbestimmten Auge. Licht und Dunkelheit wahrnehmbar in den die Haut liebkosenden Sonnenstrahlen und dem darauffolgenden kühl über die Haut gleitendem Schatten. Wie ein Planet umkreise ich hier den Mittelpunkt eines selbstgeschaffenen Universums, Jauchzende sich überschlagene Kinderstimmen aus den so nahen, aber in gleichbleibenden Abstand sich bewegenden Gondeln bringen mich in die allgemeinverbindliche Realität zurück.

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