Es ist Mittwoch und ich starre wie gebannt auf die große Wanduhr im Klassenzimmer. Mittwoch ist immer der beste Tag der Woche. Da hört der Unterricht schon um 12:00 Uhr auf und es gibt an diesem Tag auch kein Nachsitzen, weil die Lehrer ja ihre Konferenz haben.
Wichtiger noch, Mittwoch ist der große Wochenmarkt auf dem Rathausplatz und das bunte Treiben würde ich mir um keinen Preis entgehen lassen.
Grell und scheppernd schallt die Klingel durch das Gebäude. Da sind wir auch schon auf den Füßen und drängeln uns durch die Tür. Lachend und grölend ergießt sich der Schülerstrom durch das Gebäude.
Doch plötzlich bremst die Meute, denn am Eingang steht heute der Schuldirektor mit einem uniformierten Polizisten und lässt uns nur zu zweit durch die Tür schreiten. Er ist ein schmächtiger Mann mit einer komischen Brille, aber sein Blick würde selbst einen Verbrecher einschüchtern.
Und so gehen wir gesenktem Hauptes und mit verhaltenem Schritt die Treppen hinunter. Gestern war das ganz anders. Da stürmten wir die Stufen hinunter wie eine Herde Büffel. Dabei stürzte Lisa und zog sich eine schlimm blutende Wunde am Kopfe zu. Dann ist ihr in dem Durcheinander auch noch Jemand auf die Hand getreten und hat ihr zwei Finger gebrochen.
Ich weiß wer es war, aber er konnte ja auch nichts dafür, denn er hatte sie erst gesehen als es schon zu spät war.
Ob der Direktor jetzt jeden Tag an der Tür stehen wird?
An der anderen Seite des Gebäudes, wo man uns nicht mehr sehen kann, stürmen wir wieder mit Geschrei und Gelächter los um das große schmiedeeiserne Tor zu erreichen, das uns von der Freiheit trennt.
Zum Marktplatz sind es nur ein paar Häuserblöcke und die Luft ist erfüllt von dem Geruch brennender Holzkohle, Süßigkeiten vom Kräuterstand und das wohltuende Aroma frischen Brotes. Schon von weitem starre ich wie gebannt auf das wilde Treiben. Dabei passiert es. Ich verfehle den Bordstein und mache eine Bauchlandung auf dem, noch vom letzten Regen nassen Bürgersteig. Während die mich umgebende Meute höhnisch kichert und lacht, kommt Siggi, ein schmächtiger Knabe aus der Parallelklasse zu mir und reicht mir seine Hand um mir aufzuhelfen. „Hast du dir weh getan?“ Ich blicke an mir herunter und schüttele zögernd den Kopf: „Nicht schlimm, aber für das Loch am Hosenbein wird es Ärger geben“, antworte ich zögernd. Meine Klassenkameraden sind inzwischen auf dem Rathausplatz angekommen und ins allgemeine Gewimmel des Marktgeschehens untergetaucht.
Doch die Luft ist gefüllt mit einem Kaleidoskop von unzusammenhängenden Gerüchen und das kleine Missgeschick schnell vergessen.
Fast andächtig ziehe ich die Luft ein. Den strengen Geruch von brennenden Tannenzapfen, gemischt mit dem aufdringlichen Aroma der auf einem Eisenrost brutzelnden Würste erkennt man zuerst. Dann eine Andeutung von Gewürzen und blühenden Blumen. Als ich näherkomme umgeben mich die sich gegenseitig übertönenden Stimmen der Händler und Kunden. Am Werkzeugstand angekommen stelle ich fest, dass das Objekt meiner sehnlichsten Wünsche, ein in Hirschhorn eingefasstes Taschenmesser mit verschiedengroßen Klingen und einer Säge auch heute wieder zum Verkauf steht. Sieben Mark soll es kosten, steht auf dem Schild daneben. Blind zähle ich die Münzen in meiner Hosentasche, aber sie haben sich leider nicht vermehrt, es sind immer noch 72 Pfennige. Geld das ich mir im Laufe der Woche durch Botengänge und den Verkauf einer überzähligen Briefmarke aus meiner Sammlung verdient habe. Ich müsste weitere 10 Wochen sparen um den Preis des Messers zu erreichen. Dabei würde ich die 72 Pfennige am liebsten heute schon ausgeben. Eine Brezel und einen Apfel bekäme ich dafür bestimmt. Mir läuft bei dem Gedanken das Wasser im Munde zusammen. Doch das Messer funkelt mich an, als wolle es mir eine Strafpredigt halten. Ist ja schon gut, denke ich, dann spar ich es eben.
Ich schlendere weiter und komme zum Stand des Apfelkönigs. Wie immer hat er auf seinem Stand unzählige Sorten von Äpfeln und sonst nichts. Ich hab ihn mal gefragt, wieso er nicht wie die übrigen Händler auch anderes Obst und Gemüse anbieten würde. Da hatte er den fast zahnlosen Mund geöffnet und sich beinahe totgelacht. Dann wurde er ernst, beugte sich zu mir und flüsterte leise: „Ich bin eben ein Apfelmann, ein Apfelkönig sogar. Da werd ich mir mit dem anderen Zeug die Hände nicht schmutzig machen. Deshalb sind meine Äpfel immer die besten auf dem ganzen Markt!“
In diesem Augenblick torkelt der Fuhrknecht vom Weinhändler auf uns zu. Er stinkt bestialisch nach Alkohol und kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Um der Sache die Krone aufzusetzen, stolpert er im nächsten Moment und kracht mit voller Wucht gegen den Apfelstand. Der Apfelberg, den der Händler in der Mitte seines Standes aufgestapelt hatte kommt dadurch in Bewegung und eine Lawine von Äpfeln rollt auf mich zu. Entsetzt breite ich meine Arme aus und versuche sie aufzuhalten. Einer rollt mir über den Arm hinweg und ein paar davon knallen mir ins Gesicht. Doch die Apfellawine kommt zu einem Stillstand. Nachdem der Apfelkönig die Ausreißer behutsam in einen Weidenkorb verfrachtet hat, nickt er mir freundlich zu. „Gut gemacht, hättest du Lust mir jeden Mittwoch nach der Schule auf dem Stand zu helfen? So einen tüchtigen Bub könnt ich wohl gebrauchen;“ meint er wohlwollend. „Als Lohn geb' ich dir ne Mark pro Woche und so viele Äpfel wie du futtern kannst! Abgemacht?“
„Abgemacht“, antworte ich und spüre wie mir das Gesicht vor Freude rot anläuft. Er reicht mir einen großen pausbackigen Apfel, es ist bestimmt der schönste vom ganzen Stand und meint „Gut, dann fang mal gleich an. Sag mir genau wie er schmeckt und danach hilfst du mir beim Aufstapeln eines neuen Apfelbergs.“
Ich dachte an das funkelnde Messer als ich in den saftigen Apfel biss. Wenn ich mich anstrengte könnte ich mir das Messer in vier Wochen kaufen.
Ja Mittwoch ist mein Glückstag.
Mittwoch ist Apfeltag!
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