Seiten

Freitag, 12. Februar 2016

skuriles

Aus „Die Mönche von Banyadir“

Talsilaq, der wieder voranging, drehte sich halb um und grinste.
»Es gibt eine nette alte Geschichte; aus Golazin, glaube ich. Unter den Passagieren einer Fähre sind auch eine junge Frau und ein junger Mann. Sie haben einander nie gesehen; die Überfahrt dauert vielleicht fünf Minuten, und während dieser Zeit sitzen sie einander gegenüber.
Der Mann betrachtet die Frau. Sie ist anregend. Sie trägt Kleidung aus P'aodhu-Leder; der Schnitt ähnelt dem, der bei einem bestimmten Banyashil-Stamm nahe Vagaván üblich ist, und dem entsprechen auch gewisse Ornamente. Aber die Taschen der Jacke sind nicht verschließbar; es handelt sich also um das nachempfundene Produkt eines Schneiders, nicht um Kleidung, wie man sie trägt, wenn man zu Pferd zu reisen pflegt. In der Stadt gibt es nur drei Schneider, die P'aodhu-Leder so kunstvoll verarbeiten können, und alle drei sind sehr teuer. Die Frau hat feine, aber kräftige Finger mit kurzen Nägeln; die Nägel der Zeigefinger sind rötlich verfärbt, ebenso die beiden Fingerspitzen. Sie trägt hochhackige Stiefel mit sehr dicken Sohlen, fast eine Handbreit dick, und die Sohlen und Absätze sind nicht verfärbt. Vermutlich, denkt sich der Mann, arbeitet sie als Aufseherin in der Quetsche.«
»Wo?« Bogai blickte ihn fragend an.
»Ach so, das können Sie nicht wissen. In Golazin werden Purpurquallen verarbeitet; sie sind selten und finden sich vor allem vor der Golzain-Mündung. Sie werden mit bloßen Füßen zertreten, deshalb Quetsche. Aufseher tragen dort hohe Schuhe; sie prüfen die Qualität der gewonnenen Farbe, indem sie Schwämme in eine Purpurlache tauchen und dann mit dem Zeigefinger ausdrucken.
Die Lederkleidung ist makellos; also ist die Aufseherin vermutlich unverheiratet. Erstens wegen der Eitelkeit, zweitens wegen des Geldes. Eine Aufseherin verdient genug, um sich vieles zu leisten; wenn sie aber einen Mann und vielleicht Kinder hätte, trüge sie kaum für den simplen Heimweg Extrakleidung und ungefärbte Extraschuhe, die nur deshalb so hoch sind, weil sie sich an flache nicht mehr gewöhnen kann.«
»Mach das kürzer«, sagte Barakuda.
Talsilaq zwinkerte. »Na gut. 
Also, durch bloßes Hinschauen und Nachdenken ermittelt der Mann, dass diese hübsche junge Frau reich, unabhängig, ledig und leichtlebig ist, dass sie vermutlich in einer bestimmten Hafenstraße wohnt, in einem Haus, dessen Garten zum Strand abfällt und seitlich an einen Bootsschuppen stößt. Der Schuppen gehört einem Freund von ihm, und dieser Freund will den Schuppen verkaufen.
Inzwischen hat die junge Frau den Mann betrachtet. Er gefällt ihr, sieht gut aus, trägt am Kragen seiner Arbeitsjacke einen Streifen Polarfell, und so weiter und so weiter. Sie ermittelt durch Denken, dass er nicht gerade arm ist, eine bestimmte Sorte begehrter und teurer Fässer aus Spezialholz herstellt und längst ins Geschäft mit Fischerbooten und Fisch einsteigen will, um sich auszudehnen. Zu expandieren.
Expandieren ist aber schwierig, weil in der alten engen Stadt kein Platz für neue Gebäude ist. Es gibt da einen Schuppen, in dem kleine Boote repariert werden, neben ihrem Garten. Sie liebt den Garten, vor allem den unteren Teil, in dem sie seltene Blumen und Früchte zieht. Wenn der junge Mann nun den Schuppen kaufen sollte, der bald zum Verkauf stehen wird, dann wird er den Schuppen ausbauen wollen, denn für seine Zwecke ist er zu klein. Ausbauen kann er ihn nur, wenn er einen Teil des Gartens bekommt, und zwar den mit den seltenen Pflanzen.
Nun gefällt ihr der Junge aber so gut, dass sie genau weiß, nach einer ersten Nacht wird es viele weitere geben, und irgendwann wird sie, nur um ihm eine Freude zu machen, die Beete aufgeben und ihn den Schuppen ausbauen lassen, er wird weniger Zeit für sie haben, weil er mehr Zeit ins expandierende Geschäft stecken muss, und dann wird es ihr leid tun um die Pflanzen.«
»Sie könnte«, warf Töröcsik unbewegten Gesichts ein, »den Schuppen doch selbst kaufen und da unten am Strand, im eigenen Garten, eine Purpurquetsche 
aufmachen.«
Talsilaq nickte begeistert. »Gut, gut. Das ist der zweite Teil ihrer Überlegungen. Seiner übrigens auch. Er will da einsteigen, mit den Booten, die er im vergrößerten Schuppen bauen möchte.«
»Aber dann ist doch kein Platz mehr für eine Quetsche.«
»Doch, doch; man braucht noch ein bisschen mehr vom Garten. Als die Fähre mit den beiden jungen Leuten am Ziel anlegt, ist der junge Mann so weit, dass er die Frau sehr anziehend findet, den Schuppen ausbauen und eine Purpurquetsche einrichten will.
Sie dagegen – die Frau, nicht die Quetsche – findet ihn zwar aufregend, sieht aber im Geiste den ganzen Garten und den Strand von Werkschuppen bedeckt, aus denen es nach Purpurquallen und Pech für Boote stinkt, und in ihrem Haus sind Arbeiter einquartiert.«
»Und?« sagte Bogai. »Wie geht's weiter?«
Talsilaq grinste. »Ganz einfach. Sie steigen aus; der Mann bleibt vor ihr stehen, legt die Hand auf sein Herz und sagt: ›Ja?‹ Und sie wirft ihm eine Kusshand zu und sagt ›Leider nein‹.«


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen