Aus
„Die Mönche von Banyadir“
Talsilaq,
der wieder voranging, drehte sich halb um und grinste.
»Es
gibt eine nette alte Geschichte; aus Golazin, glaube ich. Unter den
Passagieren einer Fähre sind auch eine junge Frau und ein junger
Mann. Sie haben einander nie gesehen; die Überfahrt dauert
vielleicht fünf Minuten, und während dieser Zeit sitzen sie
einander gegenüber.
Der
Mann betrachtet die Frau. Sie ist anregend. Sie trägt Kleidung aus
P'aodhu-Leder; der Schnitt ähnelt dem, der bei einem bestimmten
Banyashil-Stamm nahe Vagaván üblich ist, und dem entsprechen auch
gewisse Ornamente. Aber die Taschen der Jacke sind nicht
verschließbar; es handelt sich also um das nachempfundene Produkt
eines Schneiders, nicht um Kleidung, wie man sie trägt, wenn man zu
Pferd zu reisen pflegt. In der Stadt gibt es nur drei Schneider, die
P'aodhu-Leder so kunstvoll verarbeiten können, und alle drei sind
sehr teuer. Die Frau hat feine, aber kräftige Finger mit kurzen
Nägeln; die Nägel der Zeigefinger sind rötlich verfärbt, ebenso
die beiden Fingerspitzen. Sie trägt hochhackige Stiefel mit sehr
dicken Sohlen, fast eine Handbreit dick, und die Sohlen und Absätze
sind nicht verfärbt. Vermutlich, denkt sich der Mann,
arbeitet sie als Aufseherin in der Quetsche.«
»Wo?«
Bogai blickte ihn fragend an.
»Ach
so, das können Sie nicht wissen. In Golazin werden Purpurquallen
verarbeitet; sie sind selten und finden sich vor allem vor der
Golzain-Mündung. Sie werden mit bloßen Füßen zertreten, deshalb
Quetsche. Aufseher tragen dort hohe Schuhe; sie prüfen die Qualität
der gewonnenen Farbe, indem sie Schwämme in eine Purpurlache tauchen
und dann mit dem Zeigefinger ausdrucken.
Die
Lederkleidung ist makellos; also ist die Aufseherin vermutlich
unverheiratet. Erstens wegen der Eitelkeit, zweitens wegen des
Geldes. Eine Aufseherin verdient genug, um sich vieles zu leisten;
wenn sie aber einen Mann und vielleicht Kinder hätte, trüge sie
kaum für den simplen Heimweg Extrakleidung und ungefärbte
Extraschuhe, die nur deshalb so hoch sind, weil sie sich an flache
nicht mehr gewöhnen kann.«
»Mach
das kürzer«, sagte Barakuda.
Talsilaq
zwinkerte. »Na gut.
Also, durch bloßes Hinschauen und Nachdenken
ermittelt der Mann, dass diese hübsche junge Frau reich, unabhängig,
ledig und leichtlebig ist, dass sie vermutlich in einer bestimmten
Hafenstraße wohnt, in einem Haus, dessen Garten zum Strand abfällt
und seitlich an einen Bootsschuppen stößt. Der Schuppen gehört
einem Freund von ihm, und dieser Freund will den Schuppen verkaufen.
Inzwischen
hat die junge Frau den Mann betrachtet. Er gefällt ihr, sieht gut
aus, trägt am Kragen seiner Arbeitsjacke einen Streifen Polarfell,
und so weiter und so weiter. Sie ermittelt durch Denken, dass er
nicht gerade arm ist, eine bestimmte Sorte begehrter und teurer
Fässer aus Spezialholz herstellt und längst ins Geschäft mit
Fischerbooten und Fisch einsteigen will, um sich auszudehnen. Zu
expandieren.
Expandieren ist aber schwierig, weil in der alten engen Stadt
kein Platz für neue Gebäude ist. Es gibt da einen Schuppen, in dem
kleine Boote repariert werden, neben ihrem Garten. Sie liebt den
Garten, vor allem den unteren Teil, in dem sie seltene Blumen und
Früchte zieht. Wenn der junge Mann nun den Schuppen kaufen sollte,
der bald zum Verkauf stehen wird, dann wird er den Schuppen ausbauen
wollen, denn für seine Zwecke ist er zu klein. Ausbauen kann er ihn
nur, wenn er einen Teil des Gartens bekommt, und zwar den mit den
seltenen Pflanzen.
Nun
gefällt ihr der Junge aber so gut, dass sie genau weiß, nach einer
ersten Nacht wird es viele weitere geben, und irgendwann wird sie,
nur um ihm eine Freude zu machen, die Beete aufgeben und ihn den
Schuppen ausbauen lassen, er wird weniger Zeit für sie haben, weil
er mehr Zeit ins expandierende Geschäft stecken muss, und dann wird
es ihr leid tun um die Pflanzen.«
»Sie
könnte«, warf Töröcsik unbewegten Gesichts ein, »den Schuppen
doch selbst kaufen und da unten am Strand, im eigenen Garten, eine
Purpurquetsche
aufmachen.«
Talsilaq
nickte begeistert. »Gut, gut. Das ist der zweite Teil ihrer
Überlegungen. Seiner übrigens auch. Er will da einsteigen, mit den
Booten, die er im vergrößerten Schuppen bauen möchte.«
»Aber
dann ist doch kein Platz mehr für eine Quetsche.«
»Doch,
doch; man braucht noch ein bisschen mehr vom Garten. Als die Fähre
mit den beiden jungen Leuten am Ziel anlegt, ist der junge Mann so
weit, dass er die Frau sehr anziehend findet, den Schuppen ausbauen
und eine Purpurquetsche einrichten will.
Sie
dagegen – die Frau, nicht die Quetsche – findet ihn zwar
aufregend, sieht aber im Geiste den ganzen Garten und den Strand von
Werkschuppen bedeckt, aus denen es nach Purpurquallen und Pech für
Boote stinkt, und in ihrem Haus sind Arbeiter einquartiert.«
»Und?«
sagte Bogai. »Wie geht's weiter?«
Talsilaq
grinste. »Ganz einfach. Sie steigen aus; der Mann bleibt vor ihr
stehen, legt die Hand auf sein Herz und sagt: ›Ja?‹ Und sie wirft
ihm eine Kusshand zu und sagt ›Leider nein‹.«
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